ERÖFFNUNGSREDE T. M. ROTSCHÖNBERG, 11.04.1993

Andreas Hüneke (Potsdam)

Meine Damen und Herren,

leider muß ich der Ausstellungseröffnung von T. M. Rotschönberg fern bleiben. Aber, wie man so schön sagt: Ich bin mit meinen Gedanken bei Ihnen. Und nicht nur das, sondern ich bin auch mit meinen Worten bei Ihnen. Man könnte also sagen: Ich trete als Nichtredner in Erscheinung. Eigentlich sollte ein Redner persönlich erscheinen, was bei einem Maler weniger notwendig ist, denn das gesprochene Wort löst sich schwerer von der Person als das gemalte Bild. In jedem Falle ist mit dem geistigen Produkt eines Menschen immer auch ein Stück seiner Persönlichkeit anwesend, Sie haben jetzt die Bilder von Rotschönberg um sich und haben Thomas Müller selbst bei sich. Er spricht durch seine Bilder mit kräftiger Stimme zu Ihnen. Dagegen aufzukommen, habe ich es schwer. Aber das ist auch weder meine Aufgabe noch meine Absicht. Das Wort kann in einer Gemäldeausstellung nur sekundieren. Die Bilder sprechen Dinge aus, die der Wortsprache verschlossen bleiben. Allerdings hat unser vorherrschend logisches Denken den Sinn für das instinktive Verständnis der Bildsprache verkümmern lassen. Durch die modernen Medien haben sich Bilder zwar wieder eine beherrschende Stellung erobert, aber sie werden inflationär eingesetzt. Wenn in einem Film pro Minute nicht so und so viele Bildschnitte erfolgen, kann er nicht mit Aufmerksamkeit rechnen, heißt es. Das einzelne Bild ist nichts wert. Und in ihrer Masse schleicht sich ihre Aussage hauptsächlich über das Unbewußte in den Menschen ein. In einer Gemäldeausstellung beanspruchen Bilder zwar eine gefühlsmäßige, aber doch bewußte Aufnahme. Die Bilder von Rotschönberg sind weder Inflationswährung noch Falschgeld sondern sozusagen bare Münze. Und täuschen Sie sich nicht! - trotz ihrer lauten Farben haben sie dennoch einen meditativen Charakter. Ein kurzer Blick und die Feststellung der zweifellos vorhandenen Signalwirkung genügen nicht: blauer See, grüne Palme, gelbe Sonne - oder roter See, violette Bäume. Wir müssen schon länger hinsehen, damit sich ihre Wirkung entfalten kann. Damit wir sehen, wie die Farben ihre Kraftzentren aufbauen, wie die Komplementärfarbe unmittelbar stark oder verhalten im weiteren Umkreis darauf antwortet, wie eine zweite und dritte Farbe hinzutreten und wiederum ihre Komplementärkontraste aufrufen, wie sich das Mit- und Gegeneinander zu einem dramatischen Konflikt zuspitzt, der sich schließlich in einer Synthese löst. Denn letztenendes entsteht Harmonie in Rotschönbergs Bildern. Keine kleingeistige Harmonie der Halbherzigkeit sondern eine Harmonie der starken Kontraste, in der die Individualität der Farben und Formen erhalten bleibt. Sie stellen sich gegeneinander, durchbrechen fremdes Hoheitsgebiet, oder sie gehen aufeinander ein. Aber sie vernichten sich nicht gegenseitig und unterwerfen sich einander nicht.

Das Wort kann versuchen, dem Sehen Hilfestellung zu leisten, "erklären" kann es die Bilder nicht. Es kann auch Wissen vermitteln, das vielleicht in der Lage ist, die Intensität des Sehens und damit auch des Erlebens zu steigern. Aber das Wissen kann auch das Sehen in seiner Unvoreingenommenheit behindern. In unserem Fall kann kunsthistorisches Wissen zu dem vorschnellen Urteil führen, daß es sich hier um Imitationen der Kunst Karl Schmidt-Rottluffs handele. Und hat man ein solches Vorurteil erst einmal gefaßt, dann ist das Sehen kaum noch frei genug, um das Besondere dieser Bilder zu empfinden. Über dieses Vorurteil kann wiederum weiteres Wissen hinweghelfen.
Daß wir es mit Landschaftsbildern zu tun haben, ist leicht festzustellen. Aber während für die Expressionisten der Künstlergruppe "Brücke" und also auch für Schmidt-Rottluff immer eine konkrete Situation, etwas tatsächlich in der Natur Gesehenes, Ausgangspunkt für ihre Bilder war, in denen Farben und Formen übersteigert oder auch verändert wurden, ist das bei Rotschönberg nicht unbedingt der Fall. Zwar gibt es auch solche Werke, die durch das unmittelbare Naturerlebnis angeregt wurden. Aber eigentlich geht es ihm nicht darum, und oft entwickelt er die Bilder aus spontan hingesetzten Farbformen, die sich gegenseitig bedingen und erst im Verlauf des Malvorgangs zu Landschaftselementen umgedeutet werden. Das heißt, es sind erfundene Landschaften.
Solche erfundenen Landschaften gibt es schon lange. Früher nannte man sie Ideallandschaften. Im 18. und 19. Jahrhundert wurden dafür meist italienische Landschaftsformen herangezogen, die aber von allen störenden Elementen, von allen Konfliktstoffen gereinigt wurden und ein Arkadien in scheinbarer Unberührtheit, tatsächlich aber in künstlicher Harmonie vorführen. Solche idealisierten Landschaften sind bei Rotschönberg nicht das Ergebnis. Seine erfundenen Landschaften weisen scheinbar dieselben Zufälligkeiten und Unvollkommenheiten auf wie die tatsächlichen, so daß man sie von diesen kaum unterscheiden kann. Ihnen liegt also ein allgemeines Naturerlebnis zugrunde, das dem speziellen Naturerlebnis der Expressionisten verwandt ist.
Daß ein solches allgemeines Naturerlebnis vorliegt, und nicht lediglich eine abstrakte Farbkomposition mehr oder weniger zufällig auf landschaftliche Formen appliziert wird, zeigt sich auch an dem formalen Experiment, das Rotschönberg in jüngster Zeit gelegentlich vornahm, um zu neuen Farbgestaltungen zu kommen. Einige seiner Bilder hat er fotografiert und nach dem Negativabzug neue Kompositionen gestaltet. Alles wurde hier ins Gegenteil verkehrt, nicht nur Hell in Dunkel und Dunkel in Hell, nicht nur die einzelnen Farben in ihren Komplementärkontrast, sondern es wechselte auch ihr warmer oder kalter Charakter. Und natürlich entstanden nicht einfach negative Kopien, sondern im lebendigen Malprozeß ergaben sich auch noch andere Veränderungen. Jedenfalls wird an diesem Punkt deutlich, wie stark die Phantasie des Künstlers von der gesehenen Realität geprägt ist. Sonst hätte er nicht solche Hilfsmittel nötig, um sich davon zu lösen.
Eine völlige Loslösung ist auch nicht seine Absicht. Nach dieser befragt, gibt er an, "biophile", lebensfreundliche Werke schaffen zu wollen. Also keine Bilder, die uns ständig das natürliche und künstlich herbeigeführte Absterben der Natur vor Augen führen, die Zerstörung unserer Umwelt, all die Probleme, das Elend und die Misere, mit denen wir fast ununterbrochen konfrontiert werden. Das einzige, was der Mensch nach seiner Meinung - und übrigens auch nach meiner - dagegenzusetzen vermag, sind Visionen und Utopien, da nur sie Kräfte in ihm freisetzen können, die über das normale Maß hinausgehen. Und in diesem Sinne sind seine Bilder doch Ideallandschaften, die eine zwar unvollkommene aber doch ungebrochen lebenskräftige Natur vorführen. 

Die Üppigkeit der Farben vermag unser Herz weit zu machen für Schwelgerei und Sehnsucht - Sehnsucht, die uns hinaustreibt über die unserem Leben gesteckten Grenzen. Beschränken Sie sich einmal auf das längere Betrachten weniger Bilder, und spüren Sie diesem Gefühl der Entgrenzung nach, das sich in Sie senkt, wenn Sie sich in die Bilder versenken.

Ich wünsche den Bildern diesen Erfolg und Ihnen dieses Erlebnis.

Andreas Hüneke, anläßlich der Ausstellungseröffnung Malerei T.M.Rotschönberg auf Schloß Reinsberg, Ostersonntag 1993.